„Wo sind denn all die Gnaden geblieben?“ Mit dieser Frage, Skepsis und Kritik darin waren nicht zu überhören, konfrontierte mich jüngst ein Freund und bezog sich dabei auf die Initiativen von Pius X. zugunsten eines häufigen Empfangs der heiligen Kommunion generell (1905) und der Zulassung von Kindern zur Erstkommunion (1910). Er hatte vielleicht zu viele Vorträge gehört und Beiträge gelesen, in deren Rahmen die damit verbundenen Gnaden an- und gepriesen wurden; in traditionsverbundenen Kreisen ein zuweilen nicht ganz unbeliebtes Thema, schier ein katechetischer Topos. Auch ich habe Beispiele im Ohr. Die päpstlichen Rechtstexte (Dekrete) halten sich mit Versprechungen eher zurück, aber das nur am Rande.
Nun denn - Wo sind all die Gnaden hin? Wo sind sie geblieben? Die Frage war ernst gemeint und meine erste Antwort unbefriedigend. Gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts scheint nicht besonders tauglich, um im Nachgang zu Pius X. das Wirken der Gnade zu illuminieren, weder im Blick auf eine Welt, die sich nach zwei Weltkriegen seit einigen Jahrzehnten mehrfach ins atomare Nirvana massakrieren könnte, noch auf die Kirche, die in bemerkenswerte Turbulenzen geriet. Man könnte einwenden, dass sich die Welt bis heute noch immer nicht massakriert hat und die Stabilität der Kirche beharrlicher ist, als es zuweilen scheint – bestimmter Gnaden sei Dank? Jener Gnaden, nach denen der Freund hier fragte?
Mir sind solche und ähnliche (Auf-) Rechnungen, die konkrete Ergebnisse einfordern, suspekt. Gnade mag zuweilen ein echter Sechser im Lotto sein, aber die Gewinnzahlen werden nicht öffentlich gezogen! Wie viele fromme Christen beten um die Bekehrung ihnen nahestehender Menschen, vielleicht der eigenen Kinder – und die Gebete scheinen zu verhallen? Und welche Gnade soll das gewesen sein, als am 9. August 1945 um 11:02 Uhr in Nagasaki eine Atombombe detonierte, gerade einmal 500 Meter von der Urakami-Kathedrale entfernt, in der zu eben jener Stunde eine Heilige Messe gefeiert wurde und die Teilnehmer in einem Blitz aus Glut und Licht zerstieben? Solche Fragen sind unbequem – denn wir können Sie letztlich nicht beantworten. Das einzige, was wir sagen können: Die Menschen in der Kathedrale begegneten im Tod dem lebendigen Gott. Mir fällt in diesem Zusammenhang eine eschatologische „Kurzformel“ von Hans Urs von Balthasar ein, die auf dem Hintergrund des Szenarios von Nagasaki eine ungeahnte Intensität entfaltet: Gott – „als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Feuer. Er ist der, woran das Endliche stirbt und wodurch es zu Ihm, in Ihm aufersteht“. Selbst die Teufelei einer Atombombe kann einen gewaltigen Moment der Gnade freisetzen – so dissonant sich beide Momente auch gegenüberstehen. Das zumindest dürfen wir hoffen ...
... Denn berechnen, auf ihren Ursprung synthetisieren oder gar in Excel-Tabellen dokumentieren lässt sich Gnade nicht. Mehr als der Versuch, aus der Zeit heraus und mit gewisser Distanz zum Geschehen Geschichte zu befragen, wie unmittelbar sich Gott (frei nach Leopold Ranke) zu ihr verhalten habe, und sie so zu deuten – ohne Gewähr letzter Gewissheit – ist uns nicht möglich. Darin aber können wir uns immerhin mit einigem Recht unterfangen, try and error inbegriffen.
In diesem Sinn ist mir jüngst noch ein anderer Punkt aufgefallen. Er hat ebenfalls mit Hans Urs von Balthasar zu tun, dessen „Programmschrift“ Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit (1952) ich in diesen Tagen gelesen habe. Das Büchlein wird gerne als Wegmarke hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil betrachtet. Balthasar blickte nach dem Konzil angesichts gewisser Entwicklungen allerdings kritisch auf einige seiner Gedanken – ich hoffe aber, in einigen kommenden Beiträgen aufzeigen zu können, warum Schleifung der Bastionen noch immer (oder: gerade wieder) lesenswert ist.
Worauf es mir heute ankommt: Die Kirche hat sich in den letzten 120 Jahren erstaunlich verändert, bedenkt man die sonst in ihr waltenden Beharrungskräfte. Balthasar bedenkt 1952 diesen Prozess, reflektiert dessen Status Quo und denkt über dessen Fortschreibung nach; als Signatur könnte man dem Sachverhalt das berühmte Wort Romano Guardinis von 1921 aufprägen: „Die Kirche erwacht in den Seelen“. Diesem „Erwachen“ attestierte Guardini: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt“.
Was war in Gang gekommen? Die Kirche entdeckt sich und alle ihre Glieder schon Jahrzehnte vor dem Konzil im Erbe alter Bilder jugendlich wieder, justiert das Verhältnis zwischen kirchlicher Hierarchie und Laien neu, aktiviert deren Apostolat, schaut hinter einer sakramentalen „Heilsverwaltung“ nach dem darin geborgenen Mysterium, erobert sich neue Perspektiven und verlässt ihr schützendes, aber auch zu eng gewordenes Schneckenhaus, gesellschaftlich wie theologisch - all das nicht von Heute auf Morgen, aber spätestens aus der Rückschau nicht zu übersehen (all das obendrein gegen Widerstände in den eigenen Mauern). Selbst der heutige traditionsverbundene Katholizismus schöpft aus diesem Prozess sein Selbstverständnis, auch wenn manche ostentativ den Mundwinkel dabei verziehen – einige Tage zu jener Zeit, als der Pfarrer noch Hochwürden hieß (und gefälligst auch so anzusprechen war), dürfte selbst eingefleischte Nostalgiker heilen.
Was man damals auch (wieder) entdeckte: Dass die heilige Kommunion nicht nur eine Sache zwischen Gott und der (Einzel-) Seele ist, sondern dass jede gute heilige Kommunion zum Erwachen, zum Wachsen und zum Aufbau der Kirche beiträgt. In der Alten Kirche lag hierin die wichtigste Frucht des eucharistischen Mahles. Augustinus rief den Neugetauften von Hippo einst noch zu: „Seid, was ihr seht, und empfangt, was ihr seid: Christi Leib“ (Sermo 272).
Es liegt nahe, dass sich das geschilderte Erwachen der Kirche jener Gnade verdankt, das zu sein, was wir empfangen, häufig sehen und kosten sollen … Christi Kirche, sein Leib.
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