Donnerstag, 28. August 2025

Lieblingszitate - ein Wort von Augustinus

 


Augustinus
nach einem Relief am Kanzelkorb der Pfarrkirche St. Urban in Freiburg Herdern

Zum Fest des hl. Augustinus will ich eine neue Rubrik einführen: Lieblingszitate. Das Wort vom "unruhigen Herzen" auf den ersten Seiten der Confessiones ist gewiss hinreichend bekannt. Darum ein anderes, welches für unser Verständnis der Heiligen Schrift wichtig ist. Es ist kein unmittelbares Zitat, sondern eine daraus abgeleitete Faustformel: In seinen Büchern der Quaestionum in Heptateuchum bestimmt Augustinus (nach einem ganz kurzen Exkurs zu Furcht und Liebe) das Verhältnis der beiden Testamente zueinander und schreibt: "... quamquam et in Vetere Novum lateat, et in Novo Vetus pateat" (2,73). Faktisch heißt das:

Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, das Alte wird im Neuen offenbar.
Augustinus bringt damit das Verständnis der Alten Kirche auf den Punkt. Wir müssen das Alte Testament stets aus der Perspektive des Neuen Bundes lesen, damit sich uns "Gesetz und Propheten" erschließen. Auf diesem Hintergrund ist auch das Wort der Bergpredigt zu verstehen "Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen" (Mt 5,17). Zu seiner Fülle und seinem eigentlichen Sinn gelangt das Alte Testament erst im fleischgewordenen Wort Gottes, in Christus.

Gesellen wir uns zu den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, denen der Herr darlegte, "ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben stand" (Lk 24,17) und bitten wir mit dem hl. Augustinus (Confessiones 11,1)

O Herr, Deine Stimme ist meine Freude, Dein Wort mir köstlicher als strömende Fülle der Lüste. Gib mir, was ich liebe, denn ich liebe; und auch das hast Du gegeben. Lass die Gaben, die Dein sind, nicht verkommen, und sieh nicht hinweg über Dein durstiges Gras! Ich will Dir bekennen über alles, was ich finde in Deinen Büchern. Ich möchte darin vernehmen die Stimme des Lobpreises und Dich trinken und Wunder schauen anhand Deines Gesetzes, von dem Anfang an, in dem Du Himmel und Erde geschaffen hast, bis zu dem ewig mit Dir dauernden Reich Deiner heiligen Stadt.

Mittwoch, 27. August 2025

Kirchenraum im Wandel - Einblicke in meine Pfarrkirche (01)

 


Südbaden ist konfessionell ein Flickenteppich. Das Dorf Haslach, 786 urkundlich erwähnt und deutlich älter als die benachbarte Stadt Freiburg, 1890 nach Freiburg jedoch eingemeindet, wurde während der Reformation protestantisch. Der Zuzug katholischer Mitbürger führte aber bereits 1866 zum Bau einer kleinen katholischen Kirche. Mit dem weiteren Wachstum des Stadtteils wurde ein größerer Kirchenbau notwendig: die zwischen 1907 und 1909 errichtete Kirche St. Michael, meine Pfarrkirche. Hier wurde ich getauft, empfing die Erstkommunion, diente als Ministrant, unternahm erste "tastende" Versuche an der Orgel und wurde religiös sozialisiert. Den Kirchturm sehe ich quasi vom Küchenfenster aus und freue mich am Geläut. By the way: Dankbar denke ich an Pfarrer Franz-Josef Ehrat und den damaligen Vikar Hans Scheuermann zurück.




Der Kirchenbau ist eng mit der Person des Stadtpfarrers Carl Wilhelm Kistner (1875-1946) verbunden. Kistner war seit 1899 Pfarrvikar, ab 1903 Pfarrkurat und - mit der Erhebung zur eigenständigen Pfarrei - ab 1915 Pfarrer in Haslach. Der aus dem alten Dorf hervorgegangene junge Stadtteil galt als schwieriges Terrain; die Quartiere wuchsen vor allem durch Arbeiterschaft und kleine Angestellte; Sozialdemokratie und Kommunisten sorgten für den Ruf vom "roten Haslach". Dem setze Kistner nicht nur einen auffallend repräsentativen Kirchenbau entgegen, sondern den Aufbau einer Krankenpflegestation, eines Kindergartens, eines vor allem aus persönlichen Mitteln finanzierten Gemeindesaals ("Carlsbau"), dazu Jugendarbeit und eine von Ordensschwestern geleitete Hauswirtschaftsschule. Auf "bessere Stellen" und Karrieremöglichkeiten verzichtete er ebenso wie auf seine Pensionierung; Kistners Herz schlug für Haslach, bis es mit 71 Jahren während eines Seelsorgebesuchs zu schlagen aufhörte.


Der Innenraum von St. Michael wurde - vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert - mehrfach nach dem herrschenden Zeitgeschmack umgestaltet. Ich sage es vorweg: Glücklich bin ich damit nicht und nie geworden! Das betrifft vor allem die Neugestaltung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (so hatte ich die Kirche als Kind und Jugendlicher erlebt), aber auch eine weitere Umgestaltung durch den Breisacher Künstler Helmut Lutz rund um die Jahrtausendwende (zu all diesen "Modifikationen" mehr in späteren Beiträgen). Mir fällt keine weitere Kirche in Freiburg ein, deren ursprüngliche Optik in ähnlichem Maße fragwürdigen Moden zum Opfer gefallen wäre. Die meisten Darstellungen dieses Beitrags sind übrigens Fotos der in der Kirche derzeit ausgehängten Bilder, weswegen die Qualität zuweilen nicht optimal ist. 

Noch eine Anekdote am Rande: Nachdem ich irgendwann ein Foto des alten Hochaltars gesehen (und das zwischenzeitlich karge Elend bei jedem Gottesdienst vor Augen) hatte, schwärmte ich bei einer Ministrantenfreizeit von der vergangenen Pracht; eine Betreuerin erwiderte darauf lachend: "Du landest mal bei Lefebvre". Damals hatte ich keinen blassen Schimmer, wer oder was das sein soll, aber die Frau lag mit ihrer Prognose nicht falsch (unbenommen der Tatsache, dass ich mich zwischenzeitlich der Petrusbruderschaft verbunden sehe).



Eine kleine Fotoausstellung in der Kirche blickt derzeit auf diese Entwicklungen zurück, dankenswerter Weise initiiert durch, wenn ich das richtig sehe, Pastoralassistentin Barbara Schatz - dankenswert nicht zuletzt, weil Details zur Geschichte dieser Kirche meines Ermessens bislang historisch valide nie aufgearbeitet worden sind; auch der kleine Fotorundgang bleibt mit seinen kurzen Erläuterungen zuweilen etwas im Ungefähren stecken. Genauere Sachverhalte und Hintergründe müssten wahrscheinlich im Erzbischöflichen Archiv recherchiert werden (was eine spannende Sache sein könnte). Die Ausstellung hält immerhin einige Erinnerungen wach und weckt Neugier.

Gesicherte Fakten: St. Michael wurde vom Architekten Raimund Jeblinger (1853-1937) entworfen. Für die Ausmalung zeichnete der Kunstmaler Franz Schilling (1879-1964) verantwortlich (beide arbeiteten bereits beim Bau des Erzbischöflichen Ordinariats zusammen), plastische Arbeiten trug der Bildhauer Joseph Dettlinger (1865-1937) bei. Gebaut wurden zunächst nur etwa zwei Drittel der Kirche (Bild 2 verschafft einen guten Eindruck der Formsprache, derer sich Jeblinger dabei bediente). In den 1950er-Jahren wurde das Gotteshaus um zwei Joche erweitert, wobei die vorhandene Architektur vereinfacht fortgeschrieben und um einen seitlichen Turm ergänzt wurde (Bild 1).


Bemerkenswert ist die Lösung, das Kirchenschiff mit einer apsidialen Struktur abzuschließen, an welche eine Apsidiole anschließt, deren Rundung sich in der Stufenanlage mit Kommunionschranken spiegelt. Das in der Ausdehnung eher kompakte, aber ausreichend große Presbyterium (Bild 4) nahm eine konzentrierende Kreisform an: Spiegel göttlicher Ordnung und Harmonie. Das Volk konnte sich dabei nah um den Altar scharen.

Blickfang war der von Joseph Dettlinger gearbeitete Hochaltar. Über einer steinernen Mensa erhob sich ein Retable mit dem Tabernakel, flankiert von Halbreliefs der vier Evangelisten. Bekrönt wurde es von einer Kopie der den dortigen Lettner dominierenden Kreuzigungsgruppe des Wechselburger Doms. Der gesamte plastische Schmuck war größtenteils vergoldet.

Die Ausmalung von Franz Schilling mit der die vordere Apsis dominierenden Darstellung des Pfingstwunders erscheint in ihrem etwas eklektizistischen Historismus zunächst womöglich überladen. Der Gesamteindruck (Bild 3) wirkt aber meines Dafürhaltens harmonisch, da sich die detailfreudige Ikonographie erst ab der halben Raumhöhe prachtvoll ausspannt, während sie sich in der unteren Hälfte zurücknimmt. Nichtdestotrotz hat man sie - und damit für heute genug - in den 1950er-Jahren mit Ausnahme des Pfingstbildes weiß übermalt - vermutlich im Zusammenhang der Kirchenerweiterung und der Schaffung eines schlichteren Raumbildes; solche Purifizierungen waren damals nicht unüblich (Bild 5) - das Schlimmste kommt aber erst noch ... Fortsetzung folgt ... 


Freitag, 15. August 2025

Der Mensch in Fülle - Aufnahme Unserer Lieben Frau in den Himmel


Aufnahme Unserer Lieben Frau in den Himmel
Kuppelfresko von Walter Georgi (1912) - Dom St. Blasien im Schwarzwald


Der Leib scheint im Christentum der Loser - zumindest in seiner irdischen Variante. Absolut gesetzte Bibelzitate wurden, ohne sie im Kontext der gesamten Heiligen Schrift zu betrachten, in die Debatte geworfen. Zusätzlich übernommene Anschauungen antiker Philosophie (dass etwa der Leib ein Grab der Seele sei, die daraus befreit werden müsse) trugen dem Christentum letztlich die Unterstellung ein, "leibfeindlich" zu sein. 

In der Tat lassen sich hinreichend Belege für diesen Vorwurf anbringen, wenn man es darauf anlegt. Der frühe Kirchenvater Tertullian (ein zuweilen schräger Vogel, weswegen ihm die klassische Nomenklatur auch nur den Titel "Kirchenschriftsteller" zubilligt) ist nur ein prominenter Protagonist in Sachen Abwertung des Leibes; Nachfolger, auch von höherer Rechtgläubigkeit und Ansehen, finden sich durch alle Jahrhunderte. 

Der Leib wurde nicht selten als großes Hindernis auf dem Weg der Vereinigung mit Gott gesehen; ihn galt es durch harte Askese gefügig zu machen. Freilich verstanden zu allen Zeiten die authentischen Praktiker des geistlichen Lebens - etwa die Wüstenväter - leibliche Askese nicht als totale Kampfansage zum Selbstzweck, sondern als Mittel der Reinigung des Geistes: Es geht nicht um ein Abstrafen des Leibes, sondern darum, leibliche Vollzüge für diese Vereinigung fruchtbar zu machen: etwa in Gebetsgebärden wie dem wiederholten Niederwerfen; der leibliche Akt der Metanie rührt wörtlich von metánoia her, was "Umdenken" bedeutet und damit auf den Geist zielt. 

Generell kann, dafür muss man nicht das Leben eines Wüstenvaters führen, der Leib das Beten unterstützen, wenn wir die entsprechenden Gebärden bewusst vollziehen: Stand fassen vor Gott, aufmerksam sitzen, den Heiligen suchend knien, unser Atmen auf dem Pneuma Gottes ruhen lassen. Dann ist der Leib nicht "der Feind", sondern Leiter für den Aufstieg zu Gott.

"Ja, aber all die Versuchungen, die mit dem Leib zusammenhängen", mag der Fromme rufen und damit vor allem ans sechste Gebot denken. Sicher, die damit verbundene Sinnlichkeit ist verführerisch; aber nicht der Leib überredet uns zu Fehlverhalten, sondern der Geist, der von verwildertem Begehren umgetrieben wird. Wie bei den Gebetsgebärden scheint mir auch hier der Leib eher das Ausdrucksmittel, dass zum Guten helfen oder zum Helfershelfer des Schlechten werden kann; "schmutzigem Sex" gehen "schmutzige Gedanken" voraus. Mit "schmutzig", am Rande bemerkt, meine ich hier nicht in erster Linie die Aufforderung "Schatz, sag mit etwas Schmutziges", sondern eine ethisch entgrenzte Denkungsart, die einen Vergewaltiger oder einen Pädophilen zum Ausleben seiner Neigung bewegt (welche tieferen psychologischen Triebkräfte dahinter stehen, steht auf einem anderen Blatt). Zurück zum Thema: Gewiss kann der Leib missbraucht werden, aber dies rührt nicht an der Würde des Leibes und dem Adel der Leiblichkeit. Hinter jeder Verfehlung steckt der ganze Mensch, in dem Leib und Seele vereint sind, den Körperregungen ein Sinnen und Trachten vorangeht.

Der Leib ist ein Geschenk Gottes - der Zusammenklang mit einer Seele, die sich selbst übersteigen kann, zeichnet uns vor dem Ganzen der Schöpfung besonders aus. Gott hätte uns auch als reine Geister erschaffen können, aber er wollte, dass ein Teil seiner (materiellen) Schöpfung nicht in bewusstloser Vegetation verbleibt, sondern seiner selbst und seines Schöpfers bewusst werden kann: eine Brücke zwischen der materiell geschaffenen und der göttlich schaffenden Sphäre. Sünde und Schuld rührten an dieser Verbindung, bis sie in Christus, dem menschgewordenen Wort, dem Erstgeborenen der (neuen, weil) ganzen Schöpfung (vgl. Kol 1,15) wieder hergestellt wurde.

Maria hat sich Gott dafür vorbehaltlos zur Verfügung gestellt. Ihre Aufnahme in den Himmel bezeugt die Ehre Gottes, die, nach Irenäus von Lyon, der lebendige Mensch ist - der Mensch in Fülle, mit Leib und Seele in Gottes Herrlichkeit. 

Bitte für uns, heilige Gottesmutter - auf dass wir würdig werden der Verheißungen Christi.


Mittwoch, 13. August 2025

Schaufrömmigkeit - "Im Blick leben"

 „Seid, was ihr seht, und empfangt, was ihr seid: Christi Leib“ … dieser Tage bliebe ich bei diesem Augustinus-Wort, das am Ende des vorangegangenen Beitrags stand, an der Aufforderung „seht“ hängen. Wir sollen auf die eucharistische Gabe schauen, auf „euer Geheimnis auf dem Tisch des Herrn; euer Geheimnis empfangt ihr“ (Sermo 272). Hier soll es (zunächst) um dieses Sehen, das Hinblicken gehen.

Mir kam die Eucharistische Anbetung in den Sinn. Diese wird seit einigen Jahren wieder intensiver gepflegt, nachdem das frühere Standardangebot („Aussetzung mit sakramentalem Segen“) lange aus den Pfarrbriefen verschwunden war. Diese Renaissance freut aber nicht jeden – mir kommt's jedenfalls bei der Lektüre mancher Artikel und Standpunkte auf kirchlichen Informationsportalen so vor. Wenn nicht bereits deren Verfasser damit spürbar fremdeln, dann spätestens einige Kommentatoren.

Da ist etwa von einem mittelalterlichen Relikt die Rede, welches im Trend seiner Zeit der Individualisierung und Subjektivierung der Frömmigkeit Vorschub geleistet habe. Man verweist zudem darauf, dass die Eucharistie nicht von deren Feier getrennt werden sollte; dass der Herrenleib zur Speise und nicht zu spezieller Verehrung gegeben sei … und dergleichen mehr. In diesem Kontext wird hie und da der – nicht unbedingt positiv konnotierte – Begriff „Schaufrömmigkeit“ ins Spiel gebracht. 

Ich plädiere für mehr Schaufrömmigkeit – im Sinne von Augustinus: „Seid, was ihr seht … Christi Leib“. Der dem Auge auf dem Altar entbotene Herrenleib ist ein Bild der Kirche: Christus in der Mitte, den wir ausstrahlen sollen: Haupt und Glieder. Wir sind die ... nun ja, oft verbeulte und fleckige Monstranz, die Christus der Welt vermittelt: „Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apg 1,8). Der Blick auf den Herrn, die betende Versenkung in seine Gegenwart hilft uns dabei.

Von Romano Guardini sind einige Eindrücke von einer Reise nach Sizilien überliefert. Zweimal besucht er – während der Karwoche – den Dom von Monreale; er berichtet von der Messe zur Ölweihe am Gründonnerstag:

… Der weite Raum war voll Volk. Überall saßen sie auf ihren Stühlen, still, und schauten … Alle lebten im Blick. Da wurde mir klar, was echte liturgische Frömmigkeit voraussetzt: die Fähigkeit, im Bild und Vorgang das Heilige zu erfassen.

Ähnliches bei der Osternachtsfeier am Karsamstag:

... Überall durchformte Gesichter und gelöste Haltung. Kaum einer las, kaum einer betete für sich. Alle schauten. Über vier Stunden währte die heilige Handlung, und immer war lebendiges Dabeisein. Es gibt verschiedene Arten betender Anteilnahme. Die eine geschieht durch Hören, Reden, Handeln; die andere schaut. Jene ist gut, und wir kennen fast keine andere. Aber es ist uns etwas verloren gegangen, was hier noch war: die Fähigkeit, im Blick zu leben: aus Gestalt und Vorgang schauend das Heilige aufzunehmen ... 

Romano Guardini: In Spiegel und Gleichnis. Bilder und Gedanken. Mainz / Paderborn (7)1990. 158 ff.

Im Blick leben. „Seid, was ihr seht, und empfangt, was ihr seid: Christi Leib“ ...

Mittwoch, 6. August 2025

Wo sind all die Gnaden hin? Eine Art Forschungsauftrag

 „Wo sind denn all die Gnaden geblieben?“ Mit dieser Frage, Skepsis und Kritik darin waren nicht zu überhören, konfrontierte mich jüngst ein Freund und bezog sich dabei auf die Initiativen von Pius X. zugunsten eines häufigen Empfangs der heiligen Kommunion generell (1905) und der Zulassung von Kindern zur Erstkommunion (1910). Er hatte vielleicht zu viele Vorträge gehört und Beiträge gelesen, in deren Rahmen die damit verbundenen Gnaden an- und gepriesen wurden; in traditionsverbundenen Kreisen ein zuweilen nicht ganz unbeliebtes Thema, schier ein katechetischer Topos. Auch ich habe Beispiele im Ohr. Die päpstlichen Rechtstexte (Dekrete) halten sich mit Versprechungen eher zurück, aber das nur am Rande.

Nun denn - Wo sind all die Gnaden hin? Wo sind sie geblieben? Die Frage war ernst gemeint und meine erste Antwort unbefriedigend. Gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts scheint nicht besonders tauglich, um im Nachgang zu Pius X. das Wirken der Gnade zu illuminieren, weder im Blick auf eine Welt, die sich nach zwei Weltkriegen seit einigen Jahrzehnten mehrfach ins atomare Nirvana massakrieren könnte, noch auf die Kirche, die in bemerkenswerte Turbulenzen geriet. Man könnte einwenden, dass sich die Welt bis heute noch immer nicht massakriert hat und die Stabilität der Kirche beharrlicher ist, als es zuweilen scheint – bestimmter Gnaden sei Dank? Jener, nach denen der Freund hier fragte?

Mir sind solche und ähnliche (Auf-) Rechnungen, die konkrete Ergebnisse einfordern, suspekt. Gnade mag zuweilen ein echter Sechser im Lotto sein, aber die Gewinnzahlen werden nicht öffentlich gezogen! Wie viele fromme Christen beten um die Bekehrung ihnen nahestehender Menschen, vielleicht der eigenen Kinder – und die Gebete scheinen zu verhallen? Spitzen wir die Dinge noch etwas zu: Welche "Gnade" soll das gewesen sein, als am 9. August 1945 um 11:02 Uhr in Nagasaki eine Atombombe detonierte, gerade einmal 500 Meter von der Urakami-Kathedrale entfernt, in der zu eben jener Stunde eine Heilige Messe gefeiert wurde und die Teilnehmer in einem Blitz aus Glut und Licht zerstieben? Solche Fragen sind unbequem – denn wir können Sie letztlich nicht beantworten. Das einzige, was wir sagen können: Die Menschen in der Kathedrale begegneten im Tod dem lebendigen Gott. Mir fällt in diesem Zusammenhang eine eschatologische „Kurzformel“ von Hans Urs von Balthasar ein, die auf dem Hintergrund des Szenarios von Nagasaki eine ungeahnte Intensität entfaltet: Gott – „als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Feuer. Er ist der, woran das Endliche stirbt und wodurch es zu Ihm, in Ihm aufersteht“. Selbst die Teufelei einer Atombombe kann einen gewaltigen Moment der Gnade freisetzen – so dissonant sich beide Momente auch gegenüberstehen. Das zumindest dürfen wir hoffen ... 

... Denn berechnen, auf ihren Ursprung synthetisieren oder gar in Excel-Tabellen dokumentieren lässt sich Gnade nicht. Mehr als der Versuch, aus der Zeit heraus und mit gewisser Distanz zum Geschehen Geschichte zu befragen, wie unmittelbar sich Gott (frei nach Leopold Ranke) zu ihr verhalten habe, und sie so zu deuten – ohne Gewähr letzter Gewissheit – ist uns nicht möglich. Darin aber können wir uns immerhin mit einigem Recht unterfangen, try and error inbegriffen.

In diesem Sinn ist mir jüngst noch ein anderer Punkt aufgefallen. Er hat ebenfalls mit Hans Urs von Balthasar zu tun, dessen „Programmschrift“ Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit (1952) ich in diesen Tagen gelesen habe. Das Büchlein wird gerne als Wegmarke hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil betrachtet. Balthasar blickte nach dem Konzil angesichts gewisser Entwicklungen allerdings kritisch auf einige seiner Gedanken – ich hoffe aber, in einigen kommenden Beiträgen aufzeigen zu können, warum Schleifung der Bastionen noch immer (oder: gerade wieder) lesenswert ist. 

Worauf es mir heute ankommt: Die Kirche hat sich in den letzten 120 Jahren erstaunlich verändert, bedenkt man die sonst in ihr waltenden Beharrungskräfte. Balthasar bedenkt 1952 diesen Prozess, reflektiert dessen Status Quo und denkt über dessen Fortschreibung nach; als Signatur könnte man dem Sachverhalt das berühmte Wort Romano Guardinis von 1921 aufprägen: „Die Kirche erwacht in den Seelen“. Diesem „Erwachen“ attestierte Guardini: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt“. 

Was war in Gang gekommen? Die Kirche entdeckt sich und alle ihre Glieder schon Jahrzehnte vor dem Konzil im Erbe alter Bilder jugendlich wieder, justiert das Verhältnis zwischen kirchlicher Hierarchie und Laien neu, aktiviert deren Apostolat, schaut hinter einer sakramentalen „Heilsverwaltung“ nach dem darin geborgenen Mysterium, erobert sich neue Perspektiven und verlässt ihr schützendes, aber auch zu eng gewordenes Schneckenhaus, gesellschaftlich wie theologisch - all das nicht von Heute auf Morgen, aber spätestens aus der Rückschau nicht zu übersehen (all das obendrein gegen Widerstände in den eigenen Mauern). Selbst der heutige traditionsverbundene Katholizismus schöpft aus diesem Prozess sein Selbstverständnis, auch wenn manche ostentativ den Mundwinkel dabei verziehen – einige Tage zu jener Zeit, als der Pfarrer noch Hochwürden hieß (und gefälligst auch so anzusprechen war), dürfte selbst eingefleischte Nostalgiker heilen.

Was man damals auch (wieder) entdeckte: Dass die heilige Kommunion nicht nur eine Sache zwischen Gott und der (Einzel-) Seele ist, sondern dass jede gute heilige Kommunion zum Erwachen, zum Wachsen und zum Aufbau der Kirche beiträgt. In der Alten Kirche lag hierin die wichtigste Frucht des eucharistischen Mahles. Augustinus rief den Neugetauften von Hippo einst noch zu: „Seid, was ihr seht, und empfangt, was ihr seid: Christi Leib“ (Sermo 272).

Es liegt nahe, dass sich das geschilderte Erwachen der Kirche jener Gnade verdankt, das zu sein, was wir empfangen, häufig sehen und kosten sollen … Christi Kirche, sein Leib.

Freitag, 1. August 2025

Empfehlung: Blog von Schwester Christiana

Etwas versteckt auf der Homepage ihrer Abtei finde ich immer wieder sehr lesenswerte Gedanken von Schwester Christiana Reemts OSB über Kloster und Kirche, über die Welt und Gottes Walten darin. Die überwiegend kurzen Texte der Äbtissin von Mariendonk bauen mich auf - sie sind mir nicht nur Arznei, Korrektiv und Orientierung in zuweilen verworrener Zeit, sondern stärken und inspirieren mich in meinem Glauben. Schwester Christiana zählt überdies zu den Expertinnen für pneumatische Schriftauslegung und die Literatur der Kirchenväter; sie ist eine der Mitherausgeberinnen der Programmschrift Urworte des Evangeliums für eine kirchliche Erneuerung. Ich möchte diesen Blog gerne empfehlen - er ist in der Rubrik Aus der Blogozese verlinkt.